Gaffen, melden … absahnen!

Genutzte Möglichkeiten

Von gesellschaftlicher Ausgrenzung können viele profitieren. Ob Politik, Wissenschaft oder freie Wirtschaft: Entlassungen schaffen Karrieremöglichkeiten, ausgeschaltete Konkurrenten steigern eigene Marktchancen, geraubtes Eigentum lässt sich neu verteilen.

All das geschieht. Und „Volksgenossen“ ziehen ihren Nutzen daraus – egal, ob überzeugte Nationalsozialisten oder Opportunisten.

Beispiel „Arisierung“

Anfangs boykottiert man Juden. Danach werden ganze gesellschaftliche Zonen „judenfrei“. Später müssen Juden ihre Berufe aufgeben, ihre Betriebe werden „arisiert“, gehen zu Spottpreisen an neue Besitzer. Schließlich werden die Juden, die nicht fliehen, „nach dem
Osten umgesiedelt“ – und systematisch ermordet.

Ihre Besitztümer werden öffentlich versteigert und gehen in „arische“ Hände.

Fragen über Fragen

Rückblickend bleiben viele Fragen:
Wie ist das nur möglich? Warum machen so viele mit, warum gibt es fast keinen Widerspruch? Ist es mehr als die Angst, selbst Opfer zu werden?

Die „Polenaktion“ am 29. Oktober 1938 in aller Öffentlichkeit auf dem Alten Markt in Rendsburg: Aus Angst vor Pogromen sind in den 1920er Jahren polnische Juden nach Deutschland gezogen und leben meist von kleinen Gewerben. Im Oktober 1938 sollen Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, es sind circa 17.000 Menschen, nach Polen ausgewiesen werden. In Rendsburg betrifft das elf Menschen.

Ohne Distanz überliefert der Hobbyfotograf Karl Frömert ihre zwangsweise Abfahrt in einem Bus. Auf diesem Bild sind Betroffene zu sehen, Organisatoren – und neugierige Zuschauer, auf dem Bürgersteig und hinter den Fenstern der Stadtkasse.

Zuschauen

Auktionen, Razzien und Deportationen finden öffentlich statt. Der NS-Staat vertraut zu Recht auf Beifall oder Teilnahmslosigkeit der „arischen Volksgenossen“.

Rassisch ausgegrenzte Juden, Sinti und Roma, später polnische und sowjetische Zwangsarbeitende erfahren weder Hilfe noch Solidarität. Auch aus der NS-Volksgemeinschaft ausgestoßene politisch Oppositionelle, „Asoziale“, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und „Volksschädlinge“ haben keine Fürsprecher.

Einzig der Behindertenmord fordert Protest heraus: Kirchliche Würdenträger, fast nur Katholiken, prangern in Predigten das Verbrechen an. Nach außen werden die Maßnahmen darauf eingestellt.

Was ist das für eine Gesellschaft, die derartige Verbrechen akzeptiert?

… nichts wissen wollen

Hinterher weiß angeblich niemand von den Verbrechen. Heute ist sicher: Der Mord an den Juden ist seit Mitte 1942 ein offenes Geheimnis. Viele wollen aber keine Einzelheiten erfahren. – Sie wollen nichts wissen.

Gewöhnung an Ausgrenzung und die Erfahrung von Gemeinschaftserlebnissen mögen beeinflussen. Die Politik der NS-Führung, Verfolgungen durch Gesetze abzusichern, hilft, unbequeme Gedanken zu verdrängen. Angst, bei Widerspruch selbst gefährdet zu sein, mag hinzukommen. Es wird auch eine Rolle spielen, dass schließlich so viele Menschen verstrickt sind in Unrecht: Polizisten, Juristen und Verwaltungskräfte, auch Wehrmachtssoldaten, Arbeitgeber von Zwangsarbeitenden und viele mehr.

… feixen und glotzen

Aber: Besonders bedrückend erscheinen die Fotografien von Versteigerungen und Deportationen: Die zuschauenden „Volksgenossen“ feixen und glotzen oder ersteigern fröhlich fremdes Eigentum. Problematisch erscheint ihnen die Situation augenscheinlich nicht.

Am helllichten Tag an der Hauptverkehrsstraße in Asperg: Die Deportation von Sinti und Roma aus Südwestdeutschland am 22. Mai 1940 in das besetzte Polen beginnt. Zuschauer beobachten den von der Polizei begleiteten Marsch der „Zigeuner“ zu den Deportationszügen.

Alltägliche Denunziationen

Pinneberg im Herbst 1944: Ein Mietstreit eskaliert. Die Untermieterin wendet sich an den NSDAP-Ortsgruppenleiter, der zugleich stellvertretender Bürgermeister ist. Er befragt die Vermieterin B. Diese nutzt die Gelegenheit, ihre Untermieterin Erna W. anzuschwärzen: W. solle sich dazu geäußert haben, dass Hitler in der Wochenschau nicht zu sehen sei, „der hielte sich nur an Orten auf, wo keine Bomben fielen.“

Zudem solle sie sinngemäß gesagt haben, „wer noch an einen deutschen Sieg glaube, sei ein armer Irrer“ und Hitler „sei der größte Sadist, er sei ein Ausländer, der das Deutsche Volk zu Grunde richten wolle“.
Ortsgruppenleiter Krömer gibt den Fall an die lokalen Polizeibehörden. Die Denunziantin gibt zu, dass sie vor allem eine Bestrafung der Mieterin bezwecke.

Zitate: LASH Abt. 352 Itzehoe, Nr. 539

Der ermittelnde Polizeibeamte schlägt vor, die Anschuldigung zurückzunehmen und das Verfahren einzustellen – ohne Erfolg. Erna W. wird am 2. November 1944 verhaftet und vom Hanseatischen Oberlandesgericht wegen „Wehrkraftzersetzung“ zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie wird im Mai 1945 befreit.

Zwei Jahre später, nach Kriegsende, zeigt sie ihre Denunziantin an. Vermieterin B. wird vom Landgericht Itzehoe 1948 rechtskräftig zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Polizei und Gerichtsbarkeit führen vor allem im Krieg zahlreiche Verfahren wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Rundfunkverbrechen“, verbotener Kontakte zu Zwangsarbeitern, pessimistischer Kriegsprognosen oder „volksschädlichen Verhaltens“ durch. Meist fußen sie auf Anzeigen von „Volksgenossen“, die die NS-Volksgemeinschaft ‚sauber halten‘ wollen. Zeitweise gehen so viele Denunziationen ein, dass die Behörden zur Mäßigung aufrufen.

Die NS-Volksgemeinschaft benötigt keinen Druck von außen, um Druck im Inneren zu erzeugen.

In Lörrach wird Ende 1940 der Besitz deportierter Juden an „arische Volksgenossen“ versteigert. Die Aktion wird per Zeitungsannonce angekündigt. Der Erlös fließt in die Staatskasse des Landes Baden. Der Andrang ist groß. Es wird viel gefeixt, gelacht und gedrängelt.