Landgewinner „im Osten“

Von Meldorf

Als Hinrich Lohse 1941 zusätzlich zu seinen Ämtern in Schleswig-Holstein auch Reichskommissar in Riga wird, begleiten ihn zahlreiche Beamte und NSDAP-Funktionäre aus seinem „Heimatgau“.
Direkt unter dem Reichskommissar wirken in Vertrauenspositionen der Zentralverwaltung vier „Hauptabteilungsleiter“.

Zwei von ihnen sind an der Entstehung des Adolf-Hitler-Koogs beteiligt gewesen: Martin Matthiessen, NSDAP-Kreisleiter Dithmarschen, und Johann Matthias Lorenzen, im Oberpräsidium verantwortlich für Küstenschutz und Landgewinnung Schleswig-Holstein.

nach Riga

Weitere Beispiele lassen sich auflisten: Dieselben Personen, die sich 1935 und 1936 für ihre „friedliche Landnahme“ gefeiert haben, betreiben jetzt, 1941, gewaltsame Lebensraumpolitik im Reichskommissariat Ostland.

Nur fünf Jahre liegen dazwischen! Sind Vernichtungskrieg und Wehrbauerntum die Fortsetzung von Landgewinnung und Koogbesiedlung?

Hinrich Lohse, aufgenommen im Januar 1941.

Der Gauleiter als Reichskommissar
Hinrich Lohse (1896 – 1964)

1941 ernennt Hitler Schleswig-Holsteins Gauleiter und Oberpräsidenten zum Reichskommissar für das Ostland.

Bis 1944 residiert Hinrich Lohse als Chef der „Zivilverwaltung“ zusätzlich in Riga. Dort sieht sich Lohse mit der eskalierenden, bald systematischen und öffentlichen Ermordung der einheimischen und dann auch der hierher deportierten deutschen Juden konfrontiert – einschließlich seiner eigenen koordinierenden Rolle im Mordprozess in dieser Kernregion der Shoa.
Anfangs sperrt er sich ein wenig, aber schon nach Wochen ist das vorbei: Der Völkermord ist offenbar im Sinne der NS-Führung und damit auch für Lohse ein festes Element der deutschen Besatzungspolitik.

Es gibt vereinzelte Hinweise darauf, dass ihn die Vorgänge weiterhin belasten. Vor allem aber genießt er die Rolle des Reichskommissars. Er bereist „sein“ Land. Zeitgenossen unterstellen ihm, er träume davon, Erbherzog des Ostlandes zu werden. Er liefert sich Konflikte mit vorgesetzten und konkurrierenden Akteuren. Mit Wehrmachtsgeneral Braemer rauft er sich anlässlich eines Empfangs alkoholisiert auf dem Boden: Es geht um die Reihenfolge wartender Dienstwagen. Es kursieren Witze über ihn, mancher hält ihn für überfordert.

Die Zivilverwalter befassen sich mit der Ausbeutung und der Zukunft des „Ostlandes“. Ihre Papiere werden bürokratisch konzentriert und zusammengeführt. Sie münden in einige „Denkschriften“ des Reichskommissars. Auf diese Weise schreiben jetzt auch Matthiessen, Lorenzen und Lohse wieder gemeinsam an großen Plänen.

1944 ist jedoch Schluss mit der Zukunftsplanung: Die rückläufige Front überrollt auch das Reichskommissariat Ostland. Lohse ist bereits zuvor „erkrankt“ und in die Heimat geflohen. Dort stellt er sich im Mai 1945 in Eckernförde den Briten. In den Tagen zuvor ist er zu Fuß durch ganz Schleswig-Holstein geirrt.
Auch durch Dithmarschen.

Im Herbst 1947 wird der inhaftierte Hinrich Lohse nach Nürnberg überstellt und im Rahmen der Nürnberger Folgeprozesse vernommen – ob als Zeuge oder als Beschuldigter, ist ihm zunächst unklar.
Am 20. November 1947 wird er befragt. Der hier zu hörende, 2 Minuten und 30 Sekunden dauernde Mitschnitt lautet:

Im Herbst 1947 wird der inhaftierte Hinrich Lohse nach Nürnberg überstellt und im Rahmen der Nürnberger Folgeprozesse vernommen – ob als Zeuge oder als Beschuldigter, ist ihm zunächst unklar. Am 20. November 1947 wird er befragt. Der hier zu hörende, 2 Minuten und
30 Sekunden dauernde Mitschnitt lautet:

„Vernehmender Beauvais:
Worin bestand in großen Zügen Ihre Tätigkeit?

Lohse:
Meine Tätigkeit umfasste zunächst eine zivile Verwaltung, ich war Aufsichtsbehörde, für die baltischen Staaten, für die baltischen Staaten und hatte unter mir die Generalkommissare in den einzelnen Ländern Estland, Lettland, Litauen – diese Generalkommissare arbeiteten ihrerseits mit den landeseigenen Verwaltungen in diesen Ländern zusammen – und die innere Verwaltung, das Finanzwesen, das Steuerwesen, Ernährung und alles was dazu gehört durchzuführen …

[10 Sek. Stille]

Die Wirtschaft zu leiten und zu lenken …

(15 Sek. Stille)

Vernehmender Beauvais:
Die Lösung der Judenfrage geschah in welcher Weise?

Lohse:
[Räuspern] Wie ich äh, äh ins Baltikum kam

#Schnitt#

Wie ich äh nach Riga, nach äh Kowno kam, hörte ich, dass Maßnahmen gegen die Juden bereits eingeleitet und auch durchgeführt wären.

Vernehmender Beauvais:
Von wem?

Lohse:
Von der Polizei, die ja mit ihren Verbänden gleich bei Beginn des Krieges hinter der kämpfenden Truppe einmarschiert sind …

Vernehmender Beauvais:
Ist das alles?

Lohse:
Bitte?

Vernehmender Beauvais:
Ja, dann waren Sie da, dann waren Sie Chef des Gebietes.

Lohse:
Ja.

Vernehmender Beauvais:
Ja und?“

Viele Siedler des Adolf-Hitler-Koogs nehmen als Soldaten oder als SS-Angehörige am Zweiten Weltkrieg teil.

Die beiden Gedenktafeln an der Neulandhalle listen 54 Tote und Vermisste auf.

Allein hinter 42 Namen von ihnen steht als gleichförmige Ortsangabe „i. Osten“.

Der Architekt der Neulandhalle als Besatzungsbaumeister:
Richard Brodersen (1880-1968)

Der Architekt der Neulandhalle erachtet „die Frage der Baukultur“ grundsätzlich auch als „eine Rassen- und Stammesfrage“. Im Zweiten Weltkrieg setzt er sich für „deutsches Bauen“ in den besetzten Ostgebieten ein. – Denn sie sollen schließlich auf Dauer von Deutschen besiedelt werden.

Brodersen schreibt im „Schleswig-Holsteinischen Jahrbuch 1942/43“:

Ihm gehe es um die „Vereinigung dieser Gebiete mit dem Mutterland, ihre Erfüllung mit deutschem Geist und Zeugnissen deutschen Geistes“.
Er begreife „Blut und Boden als eine für immer zusammenhängende Einheit“.

Allein sechsmal reist Brodersen für jeweils eine bis zwei Wochen 1942 und 1943 nach Riga, um einen Wiederaufbauplan für die Altstadt zu entwickeln.

Zitate: Nach Trende 2011, S. 80

Der Landgewinner als oberster Besatzungsingenieur
Johann Matthias Lorenzen (1900-1972)

Als Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse ‚seinen‘ 1931 erarbeiteten Landgewinnungsplan übernimmt und zum eigenen Projekt macht, wird Lorenzen Leiter der „Zentralstelle für Voruntersuchung und Planung Westküste Schleswig-Holstein“ im Oberpräsidium in Kiel. Ausdrücklich auf Wunsch Lohses, sie sind inzwischen Duzfreunde, geht der Oberregierungs- und Baurat 1941 mit nach Riga und wird im Reichskommissariat Ostland Leiter der Hauptabteilung IV „Technik“. Für eine riesige Region, die etwa der Größe der heutigen Bundesrepublik entspricht, soll Lorenzen die Versorgungs- und Infrastruktur sicherstellen: Technik, Verkehr, Hochbau sowie insbesondere auch sein Fachgebiet Wasserwirtschaft. Im März 1943 wird die Hauptabteilung IV aus der Zivilverwaltung ausgegliedert. Gegen den Willen Lohses und Lorenzens gewinnt in dieser Frage der Reichsminister für Bewaffnung und Munition und Generalsinspekteur für Energie und Wasser, Albert Speer. Fortan leitet Lorenzen im Reichskommissariat bis Frühjahr 1944 das „Technische Zentralamt Ostland“. Seit 1950 Präsident der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Kiel, schreibt Lorenzen 1951 einen „Persilschein“ für das Entnazifizierungsverfahren seines ehemaligen Chefs. Persönlich aber meidet er jetzt den Kontakt, zur Enttäuschung Lohses. 1968 holt ihn die Vergangenheit ein: Die Staatsanwaltschaft beginnt Ermittlungen gegen noch lebende Spitzenakteure des Reichskommissariats. Sie enden wie bei Matthiessen 1971.

Der Kreisleiter als Hauptabteilungsleiter im „Ostland“
Martin Matthiessen (1901-1990)

Martin Matthiessen, NSDAP-Kreisleiter in Dithmarschen, war einer der Initiatoren des Adolf-Hitler-Koogs. Gauleiter und Reichskommissar Hinrich Lohse holt ihn 1941 in die Besatzungsherrschaft nach Riga und ernennt ihn zum Leiter der Hauptabteilung III „Landwirtschaft“. Ab 1942 gehört auch „Wirtschaft“ zum Ressort. Obwohl gegen Matthiessen ein starker Korruptionsverdacht besteht, bleibt er bis zur Räumung 1944 im Amt. Am Ende ist er Lohses „Ständiger Vertreter“. Matthiessen gilt als überfordert. Peter Kleist, Referent im vorgesetzten Berliner Ostministeriums, urteilt später über ihn:

„Deutsche Bauern, deren Verstand wohl dazu ausreichte, zu Hause ihre 10 oder 20 ha leidlich zu bewirtschaften, besaßen als Verwaltungsvizechefs mit Generalsrang hohen Verwaltungsaufgaben, zu denen ihnen sowohl die Landes- als auch Sachkenntnis mangelte.“

Matthiessen ist von 1945 bis 1948 in Internierungshaft. 1968 leitet die Kieler Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen ehemalige Vertreter der Besatzungsherrschaft ein. 1971 muss das Verfahren nach einer Strafrechtsreform eingestellt werden, weil Verjährung eintritt.

Zitat: Nach Lehmann 2007, S. 392f.

Der Reichsbauernführer als Lebensraumplaner
Richard Walther Darré (1895-1953)

Richard Walther Darré, Reichsbauernführer, Reichslandwirtschaftsminister und Leiter des „SS-Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes“ ist ein aktiver Förderer der „friedlichen“ Landgewinnung an der Nordseeküste. 1936 erklärt er:

„Der natürliche Siedlungsraum des Deutschen Volkes ist das Gebiet östlich unserer Reichsgrenze bis zum Ural, im Süden begrenzt durch Kaukasus, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer und die Wasserscheide, welche das Mittelmeerbecken von der Ostsee und Nordsee trennt.“

Darré wird in der Besatzungspolitik „im Osten“ keine Rolle mehr spielen. Aber der Zusammenhang ist hergestellt, 1936, im Jahr der Einweihung der Neulandhalle.

Zitat: Nach Heinemann 2003, S. 28f.

Walther Darré, 1937 in Goslar.