1945 – Neustart für Schleswig-Holstein?

8. Mai 1945

Der Zweite Weltkrieg endet mit Deutschlands Kapitulation, zugleich auch die NS-Herrschaft. Wie geht es weiter nach zwölf Jahren Unrecht und Gewalt? Wie sollen Täter und Opfer zusammenleben?
Millionen ‚Fremde‘ drängen sich in Schleswig-Holstein: Wehrmachtssoldaten, Zwangsarbeitende, immer mehr Flüchtlinge. Wohnraum, Nahrung und Energie fehlen.

Riesenaufgaben

Schleswig-Holstein ist Teil der britischen Zone. Die Besatzer stehen vor riesigen Aufgaben: Wie lassen sich – gleichzeitig – Unrecht sühnen, Menschen „umerziehen“, Versorgung aufrechterhalten und eine Demokratie errichten?

Nationalsozialisten sollen ihre Positionen verlieren. Mit deutschen Demokraten baut die Besatzungsmacht eine neue Demokratie auf: 1946 finden Kommunalwahlen statt, 1947 Landtagswahlen. Die Demokratie wird stabil. Anfangs klappt auch der personelle Neustart. Doch viele Deutsche sehnen sich bald nach einem „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit. NS-Führungsschichten rücken wieder in öffentliche Positionen. Gerade Schleswig-Holstein gerät deshalb immer wieder in die Schlagzeilen.

Hinrich Lohse kurz nach der Haftentlassung bei einem Besuch der Redaktion der „Itzehoer Nachrichten“ 1951.

Die Briten verhaften NSDAP-Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse im Mai 1945. Ein „Spruchgericht“ in Bielefeld verurteilt ihn 1948 vorläufig zu zehn Jahren Haft.
Andere Strafverfolger sollen später genauer hinsehen. Schon 1951 kommt Lohse aus gesundheitlichen Gründen frei und kehrt nach Schleswig-Holstein zurück.

Hier stellt er sich der „Entnazifizierung“. Das Verfahren endet mit einer Überraschung. Lohse, ehemals der mächtigste Nationalsozialist in Schleswig-Holstein und Chef der zivilen Besatzungsverwaltung im „Reichskommissariat Ostland“, wird nur als „belastet“ (Kategorie III) eingestuft, nicht etwa als „schuldig“ oder als „hauptschuldig“.

Der Nebeneffekt: Ihm steht ein Viertel der Pension eines Oberpräsidenten zu. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen führen nicht zur Anklage. Lohse erlebt einen ruhigen, unbehelligten Lebensabend.

Aber während mancher, der mit und durch ihn Karriere machte, wieder beruflich und öffentlich Fuß fasst, wird Lohse gesellschaftlich gemieden.
Er stirbt 1964, in seinem Heimatdorf Mühlenbarbek.

Betty Voss im ZDF-Film „Schicksal bleibt stumm“ von Barbara von Poschinger, 1992.

Betty Voss (1911-1991), eine zweifache Mutter, bettelt und fällt auf, stört den nationalsozialistischen Aufbruch in Kiel. 1937 wird sie entmündigt wegen „Geistesschwäche“. Drei Jahre ist sie im psychiatrischen Landeskrankenhaus Schleswig. Danach arbeitet sie in der Rüstungsproduktion.

Sie verliebt sich gegen alle Verbote in einen Zwangsarbeiter, wird festgenommen und Anfang 1943 in das Frauen-KZ Ravensbrück verbracht. Dort trägt sie den schwarzen Winkel für „Asoziale“, ist damit in der Rangordnung der Häftlinge ganz unten. Betty Voss überlebt diese Hölle und auch medizinische Versuche.

Nach der Befreiung kehrt sie zurück nach Kiel. Als „Opfer des Nationalsozialismus“ gilt sie trotz all des Unrechts nicht. Noch 1987 bescheinigt ihr eine Ablehnung, sie habe die KZ-Haft selbst verschuldet. Betty Voss legt noch einmal Widerspruch ein. Schließlich erhält sie eine kleine Zusatzrente. Sie ist inzwischen fast 80 Jahre alt und hat 44 Jahre darauf gewartet, ein Stück Gerechtigkeit zu erfahren.

Warum gelten „Asoziale“ nach 1945 über Jahrzehnte nicht als NS-Opfer?
Wurden sie nur ‚vergessen‘ oder gezielt ausgegrenzt?

Reinhard und Lina Heydrich bei einem öffentlichen Auftritt am 26. Mai 1942 in Prag. Es ist der Tag vor dem Attentat.

SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich gilt als Hauptorganisator des Holocaust. 1942 stirbt er nach einem Attentat in Prag.
Seine Ehefrau Lina lebt mit den Kindern seit Kriegsende in ihrem Geburtsort Burg auf Fehmarn. Reue für die Taten ihres Mannes zeigt sie nie.

1950 beantragt sie eine Witwenrente. Der Fall geht bis vor das Landessozialgericht in Schleswig. Hauptstreitpunkt ist die Frage, ob das Attentat als Kriegshandlung gesehen werden kann. Dann würden Heydrichs Verbrechen keine Rolle spielen und die Witwe hätte ihren Versorgungsanspruch.

Gutachten zeigen, dass man so oder so werten kann. Aber das Gericht entscheidet 1958 im Sinne Lina Heydrichs.
Rückwirkend bis 1950 erhält sie die stattliche Witwenpension eines „Polizeigenerals“.

Zeitgleich scheitern in Schleswig-Holstein zahlreiche NS-Opfer mit ihren Anträgen auf Wiedergutmachung. Der Historiker H. Scharffenberg sieht darin einen „Sieg der Sparsamkeit“.

Gerechtigkeit?

Ministerpräsident Hermann Lüdemann circa 1947.

Hermann Lüdemann (1880 – 1959) tritt 1912 der SPD bei und macht als Fachpolitiker Karriere. Unter anderem ist er von 1919 bis 1928 Mitglied des Preußischen Landtags und 1928 bis 1932 preußischer Oberpräsident von Niederschlesien in Breslau.

Als Vertreter der Weimarer Republik und NS-Gegner wird er 1933 verhaftet. Bis 1935 halten die neuen Machthaber Lüdemann in Konzentrationslagern gefangen. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gehört er zu den generell Verdächtigten, wird angeklagt, freigesprochen, aber erneut in KZ-Haft eingewiesen. Im Mai 1945 kommt er frei.

1946 ernennen ihn die britischen Besatzer zum Mitglied des Landtags in Kiel. Ende des Jahres ist Lüdemann Innenminister. Nach der ersten freien Landtagswahl am 20. April 1947 wird er für zwei Jahre Ministerpräsident. Abgeordneter bleibt er bis 1958.

Hermann Lüdemann zählt zu den deutschen Demokraten, die in Kooperation mit den britischen Besatzern die schleswig-holsteinische Nachkriegsdemokratie geschaffen haben.

Woher nimmt er die Kraft, sich nach Jahren im KZ derart zu engagieren?

Werner Heyde alias ‚Fritz Sawade‘ (1902 – 1964).

Ein Nachbarschaftsstreit im vornehmen Kiel-Düsternbrook bringt 1959 fast beiläufig einen unglaublichen Skandal ans Licht: Der in Flensburg lebende Dr. Fritz Sawade ist in Wahrheit der NS-Verbrecher Prof. Dr. Werner Heyde. Seit über zehn Jahren liegt gegen ihn ein Haftbefehl vor!

Heyde war Obergutachter und damit einer der Hauptverantwortlichen für den NS-Behindertenmord mit rund 80.000 Opfern. Auch an der Ermordung jüdischer KZ-Insassen wirkte er mit. – Ein Massenmörder!

Seit 1947 arbeitet er unter dem falschen Namen Sawade in Flensburg-Mürwik. Ab 1950 fertigt er Gutachten für das Landessozialgericht und andere Behörden an – insgesamt etwa 7.000!

Ermittlungen offenbaren 1961: Einige Mediziner, Juristen und Wissenschaftler in Schleswig-Holstein haben über Jahre die wahre Identität von Fritz Sawade gekannt, viele weitere wissen von Gerüchten. Sie alle schwiegen und unterstützten ihn dennoch.

Wo lagen ihre Motive? Waren sie einverstanden mit dem tausendfachen Behindertenmord?
Mochten Sie einem angesehenen ‚Kollegen‘ nicht schaden?
Sah so ihr Schlussstrich aus?

Das zerstörte Kiel im Winter 1945/46